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Manfred Bosch

Laudatio von Ekkehard Faude für Manfred Bosch
anläßlich der Verleihung des Kulturpreises 2008

der Kunst- und Kulturstiftung des Bodenseekreises
Schloss Salem, 30. Mai 2008


Meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde von Manfred Bosch,
lieber Manfred,

als mich vor einigen Wochen ein Anruf von Herrn Kuhn mit der Einladung zu dieser Laudatio überraschte, sagte ich zwar ohne Zögern zu. Wenn man vom Bodenseekreis her auf einen im Thurgau lebenden Konstanzer kommt, auf dass er in Salem einen nach Lörrach ausgerückten Radolfzeller würdige, zeigt das allein schon eine Allemannia prosperans, die es zu stärken gilt. Zeigt eine wechselseitige Wahrnehmung in der Region, die ohne das Schaffen unseres Laureatus sich so nicht ergeben hätte. Und es gibt keinen unter unseren Autoren, dem ich lieber laudieren würde: nicht weil er jene unwahrscheinlichere Dialektik verkörpert, dass wer ordentlich schafft, es auch schaffen kann, sondern weil uns das Wichtigste eint, Überzeugungen, die mit Menschenleben zu tun haben, in unserer Heimat und unter den Kometen im All, und noch vor allen Büchern.

Dennoch begannen schon die Selbstzweifel, als ich den Hörer ablegte. Denn...
Ich müsste hier eigentlich anfangen mit der Aufzählung von Namen und Lichtspendern im Kulturbetrieb, die viel geeigneter wären für diese Laudatio: Uwe Timm oder Matthias Spranger oder Bruno Epple oder ...
Bruno Epple schon deswegen, weil er vor 32 Jahren dem ersten Gedichtband, im Selbstverlag des Autors Bosch im fernen Bayern erschienen, ein türaufschließendes Nachwort beigegeben hat. Und weil die Einladung zur heutigen Feier mit einem geradezu himmlischen Epple-Bild ins Land gehen konnte, es hing einmal unversehens in einer Ausstellung zwischen Epple-Bildern von Martin Walser und Dino Larese. Mir gefällt dieser gemalte Bosch, nicht nur, weil er der Idylle aus See und Ufer und Dorf und Hegau mal kurz den Rücken kehrt. Er trägt einen dicken Mantel, vielleicht für kommende Kälte. Vor allem aber sein Gesichtsausdruck:
über diesem einen aufgeschlagenen Buch, mit dem Anflug eines Lächelns, das so listig davon ablenkt, dass wir es mit einem Autor zu tun haben, von dem die Deutsche Nationalbibliothek derzeit mehr als 100 Titel verzeichnet, verfasst, herausgegeben, mitgestaltet.
Oder man hätte Uwe Timm bitten müssen, einen unserer besten Erzähler, der dem Manfred Bosch jeweils nachfragt, wenn wir uns auf der Frankfurter Messe begegnen. Timm könnte vermutlich mit dem richtigen Lokalkolorit einen Bilderbogen jenes bayerischen Bosch entwerfen, von dem wir hier am See unterm Eindruck seines späteren allmendischen Wirkens viel zu wenig wissen. Denn dieser Radolfzeller Abiturient, der sich als Ort seines Zivildiensts München wünschte, hat mehr als sein drittes Lebensjahrzehnt in Bayern verbracht: ein Landei, das es in eine Großstadt mit Geist und Gewirbel zog, folglich – wir schreiben die späten 60er-Jahre – eher in die bayerische als die schwäbische Landeshauptstadt.
Ja, Uwe Timm könnte das »Portrait of the Artist as a young Man« triftiger zeichnen, Manfred Bosch und er waren mit dabei, als die »Wortgruppe München Links« gegründet wurde, und zu dieser Zeit hatten es seine ersten Gedichte bereits bis zum »Pop Sunday« von Bayern 3 geschafft, moderiert von Gert Heidenreich. Eine Idylle anderer Art: Der Zivi, der im Altersheim St. Martin das Essen austeilen muss und dessen Name dann gerade aus dem Radio kommt, bei der Ankündigung eines Gedichts mit dem Titel »manlerntjaausdergeschichte«, zum großen Verwundern der Schwester Oberin. »Ja, Herr Bosch, dös san ja Sie!« Darauf der Bosch: »Haja.«

Ein Twen, der kräftig mit den Flügeln rüttelt, die er sich selber anschnallt, unter Gleichaltrigen, die Ähnliches wollen. Dazu in einem kulturellen Milieu, das befruchtender kaum sein könnte. Der nach öffentlichen Lesungen mit 22 Jahren das erste Verlagsangebot bekommt, von der Maistrassenpresse. ---
Liebe Festgemeinde, wenn der eine oder die andere diesen Erstdruck mit dem Titel »Das Ei« nicht kennen sollte: Wir alle sind entschuldigt. Es gab von diesem sehr schmalen, mattschwarzen Hochformat mit zerschellendem Ei nur 100 Stück. Typographie: Schreibmaschine. Der Autor wurde vom Verlag zudem basisdemokratisch in die Produktion mit eingebunden – hatte seine Blätter also erst einmal selbst zusammenzutragen ... Der Autor im Laufrad. Ein schönes Bild. Dass er mir dieses Detail erst jenseits seines 60. Geburtstags erzählt hat, muss ich beklagen. Die 616 Seiten Jacob Picard, die uns mit Libelle verbinden, die 624 Seiten »Bohème am Bodensee«, 400 Seiten Käthe Vordtriede, 416 Seiten Tami Oelfken. Wenn er das jeweils selber zusammengetragen hätte, diese grob geschätzt 3 Millionen Blätter... Ich höre den Kalkulator des Verlags seufzen: Kerle, was hettesch du uns spare kenne!

Wir alle kennen die verhaltene Rastlosigkeit, die Themenvielfalt, die konzentrischen Interessen und also den enormen Ausstoß dieses Autors. Manfred Bosch zu verlegen bedeutete ja das zuweilen schmerzhafte Lernstück, dass man diesen Autor nie exklusiv haben konnte, da wäre nur ein Großverlag mit einer eigenen Stabsstelle nachgekommen. Bizarre Momente: Wenn man gar nichts Arges ahnte, war da zuweilen in Nebensätzen über einem Salatteller oder ein Bierglas hinweg zu erfahren, was er gerade mit einem anderen Verleger schon abgemacht hatte, oder welches Filetstückchen auch noch, halt ganz anderswo, herauskommen würde. Es hat ein wenig gedauert, bis ich das einsah: dass die Produktionsweise eines freien Autors diese Ungebundenheit verlangte, seine riskante Existenzform jenseits aller wirtschaftlichen Sicherheiten, dieses Beharren auf Inhalten, die kein Markt erwartete. Und dann auch noch das Zurechtkommenmüssen mit der sehr volativen Spezies der Verleger. Allein als Mitherausgeber der Allmende hat er vier Verlage im Wechsel erlebt.
Dennoch: nervig, so ein Autor, der bereits woanders kocht, wenn man selbst noch am abschmecken ist. Ich verdanke der Feldforschung für diese Laudatio die Einsicht, dass es bei ihm aber immer schon so gewesen sein muss. Dieser Mann hat es sich als 24-Jähriger geleistet, in seinem Gedichtband »mordio & cetera«, dem mindestens 6. Buch innerhalb von drei Jahren: seinen Erstling, jenes Buch mit dem »Ei«, schon gar nicht mehr aufzuführen. Relief Verlag, Amöben-Presse, Euphorion, Henstedter Handdruck-Verlag. Produktionsstätten wie diese hätte es alle nicht gegeben zwischen See und Rheinknie, wo die Mostpressen immer noch zahlreicher sind, und heute in dieser Kulturlandschaft beginnende Literaten haben es nicht einfacher, wenn sie sich gedruckt sehen wollen.
Es ist schon so: Damit Manfred Bosch im Jahr 2008 im Linzgau ausgezeichnet werden konnte, hat es diesen längeren Umweg nach München und ins flache Land bei Fürstenfeldbruck gebraucht. Es hat auch viele schmale Bücher gebraucht, bis der Mittvierziger einen reichlich 2 Kilo schweren Bohème-Band schreiben konnte und als Endfünfziger dann an den Bänden des gut 9 Kilo schweren »Schwabenspiegel« entscheidend mitwirkte. Wir haben allen Grund, seine Frühgeschichte im Auge zu behalten.

Er selbst hat ein waches Bewusstsein für förderliche Umstände. Der junge Mann Bosch hatte das historische Glück, in einer explosiv anwachsenden Verlagsszene seine Laufbahn zu beginnen, zudem in einem gesellschaftlichen Auftrieb, der mit der heftigen Überwindung der Ära Adenauer zusammenfiel. Man muss den Treibstoff, den dieser Schreibwerker, Literat, philosophische Sucher, Historiker und Bücheranstoßer seither angesammelt hat, im politischen Kontext sehen. Als er in Radolfzell noch nicht das Abitur hatte, immerhin aber schon versuchte, den schwarzen Schlagschatten des »Südkuriers« durch das Abo einer linken Literaturzeitschrift namens »Kürbiskern« zu kontern, hatten in Düsseldorf gerade junge christliche Fundamentalisten öffentlich Bücher verbrannt, die »Blechtrommel« von Grass war natürlich darunter, und der Kanzler Erhard ließ sich vom Fußvolk einer »Moralischen Aufrüstung« in Bonn ein Ständchen bringen.
Der Widerstand gegen solchen Muff mobilisierte viele der Jungen. Im Bereich der Cinéasten ist das epochenprägend sichtbar mit dem Aufbruch des »Neuen Deutschen Films« ab 1965: vielleicht hat der sehr junge Bosch sich deshalb zuerst bei der neu gegründeten Film- und Fernsehhochschule beworben. Das hat, schon wegen des Altersheims, damals nicht geklappt. Man kann an dieser Stelle aber ins Träumen kommen, sieht den Manfred im München des jungen Rainer Werner Fassbinder und der Hanna Schygulla, – auch des Filmstudenten Holger Meins.
Die literarischen Neutöner jener Zeit blieben weniger fassbar, versprengter auch über drei sehr unterschiedliche Länder deutscher Sprache. Aber wenn sich literarische Anthologien auf eine neue Umsicht besinnen wollten, wären Texte des Manfred Bosch sehr wohl in jener Sparte der Konkreten Poesie und hintergründigen Sprachblödelei präsentierbar, in denen der Österreicher Ernst Jandl damals zum Großmeister wurde, in einer Zeit, als die viel radikaleren Sprachexperimente der Dadaisten noch vergessen waren.
In jenem Bayern der Jahre nach 68 waren wilde Begabungen am Werk. Es ist mehr als ein hübscher Zufall, dass der Drucker, der Manfred Boschs ersten Gedichtband realisierte, in seinem später gegründeten Maro-Verlag als erster Charles Bukowski ins Deutsche brachte. Solche Pioniertaten belohnt der Buchhandel traditionell mit vornehmer Zurückhaltung, viele Jahre später machen dann Großverlage ein Geschäft daraus. Als der Maro-Verleger Benno Käsmayr im neuen Jahrtausend mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet wurde, hatte er die farouchen Jahre hinter sich. Manfred Bosch hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seinen fünften Literaturpreis, keine bayerischen, die Auszeichnungen markieren einen anderen geographischen Raum: Bodensee-Literaturpreis, Johann Peter Hebel Preis, Alemannischer Literaturpreis. Welches Glück für uns alle, dass er in den 70er-Jahren dann doch sein »Go West« an Bodensee und Rhein vorbereitete.
Das war aber nicht zwangsläufig.

Manfred Bosch hätte, wie der Hanseat Uwe Timm, in Bayern bleiben können. Vorstellbar ist das. Ein schriftstellerischer Gestaltungswille dieser Potenz könnte sich in fast allen Gegenden entfalten, sein Spürsinn für Schätze, für Verworfenes, das wertvoll blieb unterm gespurten Konsens, wäre fast überall fündig geworden. Das »fast« meint aber im Fall dieses gewachsenen Vorderösterreichers jene kulturhistorisch verwobenen Landstriche zwischen dem Elsaß und Wien, in denen Otto Feger am liebsten eine schwäbisch-alemannische Demokratie eingerichtet hätte.
Ein Literat in Bayern? Denn was regte sich alles bereits dort: Dieses Lauschen auf den Nachklang der alltags viel zu unsorglich verwendeten Wörter. Auf den Doppelsinn, aus dem das ideologisch Verbogene als Lachhaftes freikommt. Sein Horchen auf die abgründige Stille, die sich zwischen Worten auftun kann. Die Befragung der Grammatiken unmenschlichen Denkens. Seine Neugier auf die Alten (ganz konkret erst: die Oidn, im Münchner Altersheim, mit ihrer erfahrungsgesättigten Sprache), dann auf jenes Ältere, das vergessen und abgedrängt wurde, das man aber aus der Schwemme des Vorhandenen herausfiltern kann, für eine freundlichere Zukunft ...
Dieser dann unaufhörliche Zug zum nächsten Buch hin: All das hätte der Bosch auch in Bayern umgesetzt. Es hätte nicht zu einer Bohème am Starnberger See führen müssen. Er hätte sich vielleicht, mit seiner 68er-inspirierten Vorliebe für widerständige und menschenfreundliche Denker noch mehr auf Erich Mühsam konzentriert oder hätte die Rebellen vom Kolbermoor erforscht.
Ein in bayrischen Wiesen fortlebender Bosch wäre womöglich nicht der Elisabeth Rupp auf ihren so sehnsüchtigen wie entschiedenen Pfaden gefolgt, hin zu einem kosmischen Lebenskonzept, das vom Menschen die Tiere nicht absondert. Er wäre dann halt wahrscheinlich in München der zu einem Gerücht verdunkelten Franziska von Reventlow nachgegangen. Und bei dieser Recherche hätte er so en passant wieder am Bodensee landen können, weil die Gräfin mit Rilke im thurgauischen Kurzrickenbach ausführlich Falke und Turm gespielt hat, und sowieso: weil der Gräfin Sohn mitten im Weltkrieg von Konstanz aus per Ruderboot sich dem Zugriff der wilhelminischen Militärmacht entzog ...

Manfred Bosch ist dann doch ohne solche Umwege aus Bayern zurück gekommen. In der Fremde hatte er einen Lernprozess hinter sich gebracht, der in der Auseinandersetzung mit dem Dialekt seine Stellung in der Welt klärte. Das Stickige und Enge einer Kleinbürgerlichkeit, aus der er erst einmal geflohen war, ließ sich in Dialektformen zwar kristallin finden, zugleich verwies diese Mundart aber auf eine Herkunft, die er nicht einfach leugnen konnte. An dieser Stelle setzt er ein Wort, das in seiner Generation reichlich démodé klang: »Rückverpflichtung«. Wer seine Arbeiten der 70er- und 80er-Jahre liest, merkt leicht, warum er nicht in Gefahr war, in einer allzu heimischen Scholle zu landen. Er hatte seinen Pflug inzwischen an Sterne gehängt, die ihn gerade Furchen ziehen ließen. Zu den wichtigsten zählt Ernst Bloch, mit seiner Parole der »kundigen Unzufriedenheit« und jenem umfassenderen Begriff einer Heimat, zu der erst ein Umbau der Welt führen konnte. Uf den Dag wart i.
Es waren eigene Texte, und in alemannischer Mundart, die ihm schon in den frühen 70er-Jahren eine Aufmerksamkeit dort brachten, wohin es ihn dann doch wieder zog: nicht an den See, aber in die Nähe seines rheinischen Ablaufs, und allemal ins Badische. Und hier müsste nun Matthias Spranger als Laudator einspringen, der ihn schon viel länger kennt. Er hat, Rundfunkmann am Freiburger SWR und immer mit dem Suchblick nach Talenten und unbekannten Könnern für das Landesprogramm, den unbekannten Mundartdichter damals in seinem bayerischen Winkel aufgespürt. Stell Dir vor, einem Redakteur werden abgetippte Dialekt-Gedichte weitergereicht; wie wenig braucht es, um in übler Tagesform Blätter wieder wegzulegen.
Aber dieser Redakteur merkte sogleich: da passiert etwas Neues, und machte sich mit zwei Kollegen auf die Fahrt in ein östliches Bundesland, nach einem Flecken namens Grunertshofen neben einem etwas größeren Dorf mit dem so vertrackt dialektisch klingenden Namen »Moorenweiss«. Es gibt aber noch Unwahrscheinlicheres als das Zusammentreffen von Mooren und Weiss in den mancherlei Glückslinien dieses Autors. Wenig später entdeckte ein hervorragend aufmerksam lesender Scout in Sachen Literaturszene in einer Voranzeige des Augsburger Kreis-Verlags einen Titel, den er sich bestellen wollte. »Uf den dag wart i«. Das Buch erschien zwar dort dann gar nicht, Hermann Bausinger aber fand so den Autor Bosch, dessen Arbeiten er verfolgte und fördernd begleitete.
Der Professor Bausinger schrieb eine Postkarte. Man schrieb sich damals noch. Von Hand. Keine Mail, die versehentlich im SPAM endet. Wir feiern überhaupt einen Autor, dessen schriftstellerische Wirksamkeit in einer medialen Umbruchszeit vor sich ging. Wir gehören einer Generation an, für die eine mechanische Schreibmaschine so sensationell war wie für heutige Youngsters ein Flugsimulator. Noch sein Nachwort zur Picard-Ausgabe haben wir vom Typoskript abschreiben müssen, die Verlegerei war damals schon im 4. Jahr der Satzherstellung am PC. Fünf Jahre später, als die »Bohème« entstand, bediente der Autor einen Computer, dessen digitale Ablagerungen sein Sohn Markus glücklicherweise konvertieren konnte. Als wir im neuen Jahrtausend unseren uralten Plan realisierten, Tami Oelfken wieder ins kollektive Gedächtnis zu holen, mailten wir uns schon.
Er hat mit diesen technischen Veränderungen der Schreibarbeit Schritt gehalten, aber – die Frage ist erlaubt –, wie seine so ausnehmend geduldige Erarbeitung eines neu akzentuierten Traditionszusammenhangs mit Tastatur und Bildschirm, Cursor und Systemabstürzen verlaufen wäre. Und ob sie nicht auch durch eine bedächtigere, an Papier und Stift und Klappertastatur gebundene Materialität des schreibenden Lernens gestützt wurde – die eigenen Verbesserungen immer sichtbar, die Flüchtigkeit erkennbar im Verschleifen der Buchstaben und das Getippte gesammelte dann vor Augen, noch im Chaos eigener Ablagen unabweisbarer als in den Icons des digital Verschobenen. Manchmal hat seine in dieser Branche der schreibenden Pfauen ganz einmalige Bescheidenheit zur antiken Maske des Schreibers gegriffen. Es gibt in der »Allmende« umfangreiche Dossiers ohne Angabe des Editors, aus den Dokumenten mühsam transkribierte Texte, kommentiert, eingeleitet, eine Heidenarbeit ... Er leistete sich das, ausgeklinkt von akademischen Konkurrenzsystemen. Dass er sich in all seiner anwachsenden Fachkompetenz eine tiefgründige Heiterkeit bewahrte, hat auch solchen Grund.

Wie die überaus fruchtbare Zusammenarbeit vom SWR her mit dem freien Autor begann, lang bevor Manfred Bosch schon mal nach Überlingen mit dem Bodensee-Literaturpreis gelockt wurde, könnte Matthias Spranger besser erzählen. Er war dann auch in einer Runde mit dabei, die sich in jenem Sommer 78 auf Martin Walsers Terrasse traf. Manfred Bosch hatte den Padrone der Bodensee-Literaten von der Notwendigkeit einer Zeitschrift überzeugt: eine Zeitschrift, mit der sich die zwischen Elsaß und Liechtenstein verstreuten Autoren und Feldforscher auseinandersetzen konnten, eine Plattform für die fälligen Neubestimmungen dessen, was Heimat und Regionalkultur bedeuten konnte, ein sich entwickelnder Ort, an dem kritisch bedacht werden sollte, was das Eigene und Angestammte war und wie sich in der Peripherie etwas retten ließe, was den Zentren zu schnell provinziell erschienen war.
So streng dürfte das damals aber nicht verhandelt worden sein, die Fama weiß von einem Bierfässchen, dessen Spund Martin Walser dann auch irgendwann traf, ob die Beteiligten Literaten und Verleger ihre höchstpersönlichen Wünsche wirklich äußerten, die von Herausgeberschaft, vom Raum für eigene Veröffentlichungen, von Anzeigenakquise, vom Organ für schon tätige Bewegungen, ist nicht erforscht. Einer aber nutzte die Gunst der Stunde wirklich, der Verleger St. aus Konstanz, der dem Hausherrn endlich ein Angebot machen konnte: »Übrigens, Herr Walser, wenn Se emol was Guetes hond, denn denketse an mein Verlag.«

Walser hatte dann etwas Gutes, das bekam aber der Redakteur Bosch für die erste Nummer der Zeitschrift, die Einleitung zur Lebensgeschichte des Proletariers Dikreiter. Die »Allmende« erschien ab 1980 im Thorbecke Verlag, und neben zugkräftigen Namen wie Martin Walser, Adolf Muschg, André Weckmann und dann Hermann Bausinger als Mitherausgeber war es über 25 Jahre lang vor allem die Knochenarbeit des Redakteurs Bosch, der im tätigen Zusammenspiel mit dem Mitherausgeber Matthias Spranger dieses Schiff auf Kurs hielt. Seine Hoffnung auf eine Stärkung des republikanischen Klimas war nicht ermüdet. In der »Allmende« konnte er umsetzen, was sich aus seinen Münchner Erfahrungen ergab. Auf Neudeutsch kann man das Netzwerken nennen, es war aber an eine politische Grundüberzeugung gebunden, die der Dreißigjährige so formulierte: »Dass Teilhabe und Solidarität die eigentliche Bestimmung menschlicher Gemeinschaft sind.«

Seine alemannischen Gedichte waren ihm fern der Heimat geglückt. Seinen genauesten Blick auf Bayern schaffte er von Rheinfelden aus, wohin er 1980 umgezogen war. Im Kölner Verlag Pahl-Rugenstein erschien sein politisch-historisches Lesebuch unterm Titel »... du Land der Bayern«, mit 150 Texten und in einer Entschiedenheit, die auf einen neu gesichteten demokratischen Traditionszusammenhang aus war. Wer das damals nicht mitbekam, für den wurde Manfred Bosch schon allein über die »Allmende« eine unübersehbare publizistische Instanz. Als 1984 der Südkurier die Serie »Mein Bodensee« startete, war er bereits mit eingeladen. Und manchem bräsigen, idyllenversunkenen Text in jener Serie setzte seine Frage zu: »Wer garantiert überhaupt dafür, dass die wesentlichen Erfahrungen mit dieser Gegend nicht noch ausstehen?«
Um dies für sich selbst zu klären, entfaltete er seither in Archivrecherchen, Menschenbefragungen, in Aufsätzen, Katalogtexten und dicken Büchern jenen exorbitanten Fleiß, der die Grundierung dieses Lebenswerks ist.
Er hatte, beherzter Studienabbrecher, die unbesorgte Vorgehensweise eines Wissbegierigen, der sich von zeitgeistigen Theorien nie einengen ließ. Einer, der umso eingehender den wild wachsenden, fruchtbaren Denkansätzen von nicht so steil Arrivierten nachging. Fritz Mauthner statt Derrida. Die Begegnung mit dem Denken Max Picards, das mit Verbindlichkeit älterer Wahrheiten rechnete: Er gab ihn neu heraus, als anderswo gerade die Postmoderne eingeläutet wurde. Die behutsame Frage, ob der Gestaltwandel der Götter, wie ihn Leopold Ziegler vom hiesigen Ufer her gesehen hat, nicht ebenso bedenkenswert sei wie ein Strukturkonzept, das Levy-Strauss aus Südamerika zurückbrachte.

Ein Handwerker der Überlieferung, ein Sammler und Sondierer erst einmal. Mit einer nicht nachlassenden Freude über disparate Funde, bei denen vorderhand nicht schon feststand, was sich aus ihnen ergeben könnte. Als an den akademischen Rändern die Parole von »oral history« ertönte, war er schon länger dabei, den Leuten zuzuhören, den großen Erzählungen wie auch den Sprüchen, die zeigen, wo sie aus ihren Erfahrungen partout nicht lernen wollten. Als Alemanne musste er ohnehin nicht erst entdecken, was der heutzutage superschicke neue Ruf nach »Entschleunigung« will. Es bedurfte nur jenes stillen Muts abseitiger Interessen, der auf die halbüberwucherten Pfade von Denkerinnen und Denkern lockte, Eigenwillige, die einige der westlichen Zentrismen schon viel früher hinter sich gelassen hatten. Hedwig Straub, die als Ärztin in Nordafrika vor hundert Jahren schon die Perversionen Europas schärfer fasste. Mauthner auf dem Weg des Gautama Buddha. Elisabeth Rupps Geschwisterlichkeit mit den Tieren.

Als er sich vom Anspruch literarischer Erfindung befreite, mit eigenen Gedichtbänden aufhörte (ein Dreißigjähriger übrigens, der sich sagt: etz langts!), legte er erst richtig los.
Geschichte wurde für ihn seither ein Raum, in dem es eine Vielzahl von Stimmen gab, man musste sie nur aus den Archiven holen und lesbar machen, man musste, aufwändiger schon: sie aus verstreuten privaten Briefen herauslesen. Und anderen musste man eben mit Notizblock oder Tonband zu Leibe rücken.
Es hätte, als er sich dem Echoraum der Sozial- und Kulturgeschichte zuwandte, in Beliebigkeit enden können – wir kennen die massenhaften Kunstexeperimente, die das Kontingente und den Wirrwarr abbilden, das Geräusch, Artefakte einer anarchistischen Richtungslosigkeit. Aber dieser Mann hatte am festen Holz der Aufklärung festgemacht – Jean Améry sei‘s gedankt – und von dort ließ er sich und seine wachsenden, sich verändernden Interessen am langen Tau treiben. Eine Anbindung, die ihm im schwankenden Boot einen aufrechten Stand erlaubte, kurzes angstvolles Rudern inbegriffen. Während die Parolen um ihn herum von Macht-kaputt-was-euch-kaputt-macht zu No Future, No Bock und Shareholder-Value wechselten, suchte er den Strom und die Wellenmuster menschlicher Erfahrungen nach den Stimmen ab, die an demokratische Machbarkeit glaubten. Ein selbstverständlicher Pazifismus, Abweisung des Militärischen und der machistischen Überwältigung der Frauenstimmen in der Geschichte, die unnachsichtige Ankreidung der Nazimittäter, weil ja doch viele, wenn auch viel zu wenige, an diesem Katarakt deutscher Geschichte Standfestigkeit und Mut bewiesen und sich menschlich verhalten hatten. Es geht ihm immer noch darum, den Opfern, den von Gewaltsystemen Stummgemachten eine Stimme zu geben, auch wenn das kein Ersatz für gestohlenes Leben ist.

Man kann es nicht bei jedem Preisträger wagen: nachzufragen, was seine Arbeit bewirkt hat. Mit den inflationär anwachsenden Literaturpreisen werden auch Luftgeister ausgezeichnet, die vor allem die Klaviatur des Betriebs beherrschen, klandestine Meister im Absahnen gefüllter Töpfe. Dorthin wollen nun immer mehr. Inzwischen wird die Berufsbezeichnung »Schriftsteller/Autor« in Briefköpfen von Menschen vorgewiesen, denen unmerklich mehr als die geläufige Bedienung eines Textprogramms gelingt.
Bei Manfred Bosch hingegen: Nicht nur, dass er einem gänzlich ohne Briefkopf auf der Rückseite eines Fehldrucks handschriftlich mitteilen kann, dass im laufenden Projekt »die bisher fertigen Kapitel« 2.150.000 Anschläge umfassen. Aus der bedruckten Rückseite erfährt man auch zugleich die Vita eines württembergisch gewordenen Atheisten und Sozialisten namens Albert Dulk. Nein, bei diesem Preisträger kann man sich in die Rolle des brechtschen Zöllners begeben und die Frage stellen: »Hat er was rausgekriegt?« Wer sich in Antiquariatskatalogen umsieht, wird seine „Bohème am Bodensee“ als fachliterarische Quelle ersten Ranges zitiert finden. Man schaut zuerst beim Bosch nach, wenn man über Autoren etwas wissen will, denen kein Literaturwissenschaftler zu einer Monographie verholfen hat. Diese Nobilitierung seiner gründlichen und Grund schaffenden Arbeit ist also schon längst durchgesetzt. Und nun warten wir geduldig darauf, dass die Universität Konstanz den Blick vom Nabel der eigenen Exzellenz mal kurz hebt, und diesem singulären Arbeiter im Weinberg der Memoria einen Ehrendoktor verpasst. (Nu ko Angscht, mir dädet die zwei Buchstabe wie bisher lautiere: »Dr Manfred«.)

Zu den Konturen von Erfolg gehören die Schattierungen des Misslingens. Dass er seinen Max Picard nicht bekannter machen konnte, schmerzt ihn. Und gemeinsam münzen wir zuweilen Niederlagen um, in den Gedanken vom langen Atem, den es braucht. Das Zauberwort von der verzögerten Rezeption. Wenn sich die ohnehin schlimmen Vorahnungen an harten Marktrealitäten brechen und Tami Oelfken, dieses eigenartige, noch in seinen Verzweiflungen anmutige und eben überliefernswerte Logbuch der Tami Oelfken, ihre »Fahrt durch das Chaos«, sich auch an jenen Bodenseeufern nicht verkauft, an denen sie 1944 gestrandet ist. So isches numol, sagt man sich da, die Enttäuschung oder das halblaute Sakramentieren übertönend: und fügt hinzu: So müsse es ja nicht ewig bleiben. Aber belebender ist es natürlich, an tatsächlich bewirkte Veränderungen zu erinnern. Zu den schönsten gehört: Jacob Picard ist wieder präsent. 15 Jahre nach der ersten Picard-Werkausgabe, herausgegeben von Manfred Bosch, gibt es für den Erzähler des alemannischen Landjudentums in Wangen einen Gedenkort.

Meine Damen und Herren, den Zisterziensern, die sich vor Jahrhunderten hier in Salem zu einem harten Leben in der Stille zusammenfanden, waren pro Tag Plaudereien von einer halben Stunde erlaubt. Ich hör ja schon auf... Dabei hätten Sie doch noch von den Buchprojekten erfahren können, auf die wir zwei uns freuen. Dem Laureatus aber will ich eine Frage schon beantworten, bevor er sie mir stellen kann: Nei, do hot etz konner übertriebe. Allen Beifall für Manfred Bosch!

Ekkehard Faude, Laudatio auf Manfred Bosch, Salem, 30. Mai 2008.


© Libelle Verlag, 2008
Foto: Auf Schloss Salem am 30. Mai 2008 (© Libelle).

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