Ilse Helbich, Buechertisch im Wien Museum. © Libelle
Home
»Ilse Helbich – Schwalbenschrift«

Ekkehard Faude über Ilse Helbich und ihre »Schwalbenschrift«
Buchvernissage 17. September 2003, Historisches Museum Wien


Meine Damen und Herren,
[...] Am Anfang jeder Novität steht für den Verlag ein Typoskript, ein Konvolut von losen Blättern in einem Kuvert, das am frühen Morgen von der Post gebracht wird. Im Briefkasten der Libelle landen drei bis vier unverlangte Bücher pro Tag. Ein Verzweiflung schaffender Tatbestand. Die Verlegerei ist so gesehen der ständige Versuch, die Hoffnung darauf nicht aufzugeben, dass zwischen dem gedruckten Werbeschrei des Supermarktes, den rasch verfallenden News der Tagespresse und zwischen den 95% sofort vergessenswerten Schreibversuchen: ein Rohdiamant liegt, dessen eingefangenes Licht die unwägbaren Phantasien von Lesern anheizen könnte. Diesem Glück begegnen wir nur so alle drei Jahre. Ilse Helbichs Erinnerungen kamen in einem dritten Jahr.
Wir wollen einfach keine Kurzzeitglimmerbücher machen. Wer Sprache ernst nimmt, der möchte, dass ein gelungenes Buch Erfahrungen weitergibt: Lebenserfahrungen, Spracherfahrungen, Erfahrungen des Denkens, sie sind ja nicht zu trennen. Und die Traditionskette der wirklichen Literatur will sich an ein anderes Zeitmaß anschließen, auf längere Sicht haltbar sein, ganz gleich, ob sie sich nun auf die Spur »ganz vergessner Völker Müdigkeiten« macht oder ob sie dem »Handwerk des Lebens« nachgeht.
Wer überhaupt Bücher macht, handelt auf ganz unterschiedliche Hoffnungen hin. Ich will dabei gar nicht erst verdrängen, dass es auch um die schlichte Erwartung geht, es möchten sich aus den vielen gedruckten Sätzen doch bittschön dann Umsätze und Absatz ergeben…. Wir haben diese Ambition, einen hervor-ragenden Inhalt zu einem so attraktiven Warenprodukt zu gestalten, dass ein kleiner feiner Markt scharf darauf wird.
Aber die subtilere Hoffnung regt sich ja doch in anderer Tonart, wenn über der ersten Lektüre eines unbekannten Textes die durch gar nichts beweisbare Gewissheit aufdämmert: diese Stimme ist unverwechselbar, ein solches Buch sollte sich eine Aufmerksamkeit schaffen, welcher nicht der Hype einer Saison schon den Garaus macht. Die kühnere Erwartung geht sogar dahin: dass der literarische Surplus des Erzählten sogar noch ganz zukünftigen Lesern einen Pakt ermöglichen kann. Jenen schlichtesten Pakt, der nach wenigen Seiten aus der sanften Erregung heraus geschlossen wird: diese fremde Geschichte erschließt etwas in mir, was zu meiner Identität hätte gehören können. Bei der autobio-graphischen Erzählart von Ilse Helbich bin ich mir dieses Potenzials gewiss.

Dabei hat alles, ich darf das nun gestehen, für uns beide mit einem Missgeschick begonnen. Und weil ich mich ein ganz klein wenig geniere, aber doch nur ein ganz klein wenig, da die Geschichte ja heute so sichtbarlich gut ausgeht…, und weil dieses Missgeschick andererseits auch in das Muster aus Entschiedenheiten und Zuwartenkönnen passt, das diese Autorin und die von ihr entworfene Erzählfigur ausmacht – deshalb formuliere ich nun in der direkten Anrede weiter:

Liebe Frau Helbich, Sie haben uns vor ziemlich exakt sieben Jahren Ihren ersten Brief mit Texten geschickt. Auf die Libelle waren sie aufmerksam geworden durch ein damals gerade erschienenes Buch, und Sie waren ehrlich genug zu schreiben: dass sie es zwar noch nicht gelesen hätten, aber die ganze Machart, dieser feine sommerrote Umschlag mit dem Prägedruck einer Spiegelschrift im Buchtitel »Morgen oder Abend« gefalle Ihnen so.
Das Kompliment, meine Damen und Herren, galt also eigentlich meiner Frau Elisabeth Tschiemer, sie gestaltet unsere Umschläge und inzwischen auch unsere Website. Die stimmigen Äußerlichkeiten helfen den Inhalten immer zuerst auf.
Sie, liebe Frau Helbich, konnten damals noch nicht wissen, dass das Buch Ihres Wohlgefallens, das von Katrin Seebacher, wenig später in Österreich zu besonderen Ehren kommen würde. Dieser Erstlingsroman erhielt den Rauriser Literaturpreis. Aber mir scheint inzwischen, dass Ihre Faszination über die rätselhafte Spiegelschrift schon eine Art Luftbild freisetzte, das heuer in unseren lang gesuchten und erst spät gefundenen Buchtitel mündete: Schwalbenschrift.
Davor indes lag eine Ablehnung, ich habe damals wohl gut ein Jahr hin und her überlegt, aber keine verlegerische Form für Ihre stille Kurzprosa gefunden. Wir haben telefoniert, Briefe gewechselt. Ich streckte die Waffen schließlich aus merkantiler Befürchtung, aber mit einem Vergleich, zu dem ich bei keiner anderer Absage je gegriffen habe: »Sie schreiben eigentlich so gut wie die Kaschnitz, aber der Buchhandel würde das bei Libelle nicht einkaufen.« Wir haben dann auch nichts mehr von einander gehört, es war, wie wir inzwischen wissen, kein arges Schweigen.

Die List der Vernunft brachte freilich in den Jahren danach die Libelle in immer dichteren Konnex mit Wien. Eigentlich kein Wunder: die Stadt, in der der Verlag in seinen ersten 12 Jahren wuchs, Konstanz am Bodensee also, lag einst auf vorderösterreichischem Grund. Es hätte nur so etwa einen Napoleon weniger gebraucht, und Libelle wäre ein österreichischer Verlag geworden… Von Wien aus jedenfalls wurde unser Programm seltsam genau beobachtet. Mindestens: seit wir 1992 nur 10 Wochen nach der Entdeckung des Eismanns mit einer Satire auf die Ötzi-Forschung auf den Markt kamen »Das Similaun-Syndrom«). 1998 verlegten wir dann ein Theaterstück des Franzosen Eric-Emmanuel Schmitt, das hier in Wien spielt, und in dem der alte Doktor Freud von einem seltsamen Besucher bedrängt wird, einem Verrückten, womöglich auch Gott selber. Im Frühjahr 2000 dann geschah’s im avantgardistischen »echoraum« in der Sechshauser Strasse 66, dass eine geniale, musikalisch inszenierte Collage aus dem surrealen Stoff unseren Wissenschaftssatiren zur Aufführung kam. Im Herbst des gleichen Jahres wurde das neue Stück unserer Autorin Yasmina Reza am Burgtheater zur urauffgeührt (»Drei Mal Leben«). Und es spricht für die besondere Buchkultur dieser Stadt, dass unser Autor Ulrich Ritzel hier vor einem Jahr sogar zu einer Lesung in privatem Kreis eingeladen wurde.
Liebe Frau Helbich, Sie saßen da schon über dem Stoff Ihres Lebens. Als wir davon erfuhren, im vergangenen Dezember, kam Ihr Anruf in einer guten Zeit. Es braucht selbst dies, den kairos, einen glückhaften Aufmerksamkeitszeitpunkt, damit ein Manuskript und ein Verlagsprogramm zusammen kommen. (Der eben erwähnte Ulrich Ritzel, hatte zuvor schon bei 12 großen Verlagen zur unrechten Zeit angefragt, bevor er zur Libelle kam und dann zum bisher größten Publikumserfolg wurde.)
Sie sagten am Telefon, Sie hätten über Ihr Leben geschrieben, und Sie hörten von mir dann, dass ich das - ganz unabhängig davon, ob daraus ein Buch werden könnte - gern erstmal nur privat lesen würde. Sie sind eine kluge Frau und haben vermutlich gewusst, dass ich diese unverbindlichere Privatlektüre erst einmal aus schierem Selbstschutz vorschob. De facto aber funktioniert diese Verlegerei so schlicht: nur was den Maßstäben der höchst persönlichen Leselust genügt, einer Melange aus privater Erkenntnissuche, dem Bedürfnis nach anderer Weltsicht aus fremder emotionaler Intelligenz und dem Vergnügen an gelungener Sprache, nur das schafft die Schwelle ins strengere Lektorat. Erst dann beginnt die Arbeit.
Ich bin ein immer hungriger Leser von Autobiographien, nichts führt belebender zur Entkrustung der Selbstfestschreibungen als der Blick anderer Menschen auf ihre ganz anderen Erfahrungen. »Das Rudel meiner Iche«: es war eine Wiener Autobiographie, in der vor über 30 Jahren das Konzept einer multi-perspektivischen Selbstbefragung durchgespielt wurde, ich meine die Erinnerungen jenes inspirierenden, leidenschaftlichen, zuweilen auch heftig sich irrenden Denkers Ernst Fischer.

Ein Text gibt seine Qualität auf den ersten Seiten zu erkennen. Vielleicht war es schon das Anfangswort in diesem Helbig-Text, das in mir die erste der vielen sanften Explosionen auslöste, die dann noch kamen: »Splitterbilder«.
Das Wort ist ein Dementi. Es gibt ein Benn-Gedicht mit einem starken autobiografischen Gestus, das fängt an mit der Zeile: »Im Taumel war ein Teil, ein Teil in Tränen…«, und ziemlich in der Mitte steht das Fazit: »doch was sie sahn, das waren halbe Bilder, weil dir das Ganz nur allein gehört«. Ich bin diesem halb sentimentalen, halb imperialen Gestus eines alten Mannes, dieser letzten autobiographischen Illusion lang aufgesessen. Es ist eine Illusion. Was mich am Erinnerungsmosaik der Ilse Helbich dann am stärksten fasziniert hat, ist die intellektuelle Klarsicht, die den Prozess der Selbstdeutung für unabgeschlossen hält. Ist die weibliche Klugheit, die eben nicht darauf spekuliert, das Ganze eines Lebens aus getrennten Bildern zusammenfügen zu können.
Ilse Helbichs Buch beginnt mit diesem Satz, der nur aus einem Wort besteht: »Splitterbilder«: sie tastet sich zu dem, was das Kind von einst von der Welt aufnahm, in seiner von Worten noch unverstellten Anfangszeit. Und das Buch endet mit emblematischen Bildern einer Jetztzeit, lose gereihte szenische Alterswahrnehmungen. Der allerletzte Satz heißt: »Nackte Edelsteinbläue«. Gemeint ist ein Himmel, der leer ist, weil selbst die Schwalben weg sind. Klar, da werden wir nach 240 Seiten Lektüre mit dem Blick entlassen, der einfach einem Septemberhimmel gelten könnte. In dessen herbstlich klaren Weiten aber auch die Vögel Trakelscher Erinnerung entschwunden sein können. Ein Himmel endlich, der zum Gegenüber einer gelassenen Einsicht werden kann: leer, leuchtend, gleichgültig In einem unauffällig kunstvollen, kühlen Duktus gelingt dieser Sprachfindungsgabe immer wieder ein Anschluss an schlichte, mythische Bilder und an die poetische Tradition.
Ich war im Januar dann aber dennoch zunächst befremdet über eine kommunikative Vorentscheidung. Der Text ist konsequent in der dritten Person geschrieben. Kein »ich«. Die Erzählstimme erinnert das Kind, das Mädchen, und meist einfach: »sie«. Im Weiterlesen, und das gelingt ja leicht bei der leisen fortwährenden Spannung dieser Erzählart, wird dann die innere Notwendigkeit dieser 3. Person immer klarer. Die Autorin hat so eine Falle der vorschnellen Identifizierung des Selbsterlebten stilistisch entschieden umgangen. Sie schreibt skeptisch, was die Verfügbarkeit eigener Erinnerung angeht. Sie schreibt zugleich mit einem Distanzgestus, der eine heute ganz selten gewordene Fähigkeit umsetzt: diese Autorin schafft es, diskret zu bleiben, ohne den Wahrheitsfragen auszuweichen.
Eine unsentimentale Entferntheit zu früheren Schmerzstufen spricht sich so auch aus. Noch die Glückserinnerungen werden dem distanzierten Blick der alten Frau hinterlegt. Aber diese alte Frau ist genau besehen eine letzte persona, sie ist so wenig gleichzusetzen mit der Autorin wie das frühere Kind des Buchanfangs. Wer Ilse Helbich erlebt, ihr Lachen, ihre behutsame Neugier, weiß das. Wir überlassen getrost den Literaturwissenschaftlerinnen die genauere Untersuchung dieser literarischen Masken.
Äußerlich lädt der Text also dazu ein, ihn wie einen Roman anzugehen. Er wird so gelesen. Manche der ersten Leserinnen haben die Einsamkeitsgeschichten, die Fremdheitserfahrungen, das Glücksverlangen dieser Frau an den Rand der Tränen gebracht. »Schwalbenschrift« bleibt dennoch mehr als ein Frauenbuch, die Indizien mehren sich. Kurz vor unserem Abflug nach Wien, gestern, kam der Anruf des überaus belesenen Chefredakteurs einer deutschen Literaturzeitschrift, er wollte uns nur zu diesem Buch beglückwünschen, das sei für ihn seit langem der eindrucksvollste Roman überhaupt.
Dieser Roman wählt aber Erinnerungsorte aus, die aus dem Muster der klassischen Autobiographie kommen und die eigentlich besonders prägnante Szenen bürgerlicher Identitätsformung ausmachen: Die allererste Kindheitserinnerung. Die Einsamkeitserfahrung in der ersten schweren Krankheit. Die Köstlichkeiten der Sommerferien und die Erwartung um Weihnachten. Die befremdliche Welt der ersten Schultage. Das erste Umworbenwerden, die erste entschiedene Wahl einer Liebe. Die Geburt des ersten Kindes. Und schließlich dieser faszinierende letzte Topos, der in Frauen-Autobiographien noch neu ist, weil ihn gesellschaftliche Veränderungen noch nicht lange ermöglichen: die selbstbestimmte Loslösung aus dem jahrzehntelang ausgehaltenen Gefüge von Ehe und Kindererziehung. Eine der stärksten Szenen ruft eine Nacht zurück, die erste Nacht der Mittfünfzigerin in einer leeren Wohnung, eine Initiation ins Alleinsein, der Vorschein auch einer ganz neuen illusionslosen Leere.
Das alles klingt nun aber viel zu abstrakt, Ilse Helbichs Buch erzählt ja doch auch ein Leben in Wiener Anschaulichkeiten. Manches davon hat den historischen Wert des Verschwundenen, manches verweist auf die Narben der ältesten Generation. Die Interieurs im Döblinger Jugendstilhaus, die dumpfe Luft der Dienstmädchenagentur in der Habsburgergasse, die kalthauchende Nacht auf dem Eislaufplatz in der Iglaseegasse. Die alle Sicherheit verstörende Beschießung des Karl-Marx-Hofs im 34er Jahr, erlebt von der 11-Jährigen. Der hakenkreuz-überschwemmte 13. März 1938. Der Krieg, fernab erst, schließlich der Feuersturm der Bombardierung 1945, in dem das elterliche Haus untergeht, die Schrecken der russischen Besetzung.
Meine Damen und Herren: Es ist ein österreichisches Jahrhundert in der verheerende Geschichte Europas, in dem dieses einzelne Leben sich ergeben hat, mit seinen Traurigkeiten und seinen Glücken und seinen beharrlichen Entzifferungsversuchen. Die Essenz dieses literarischen Erzählens aber kann die Leserinnen eines neuen Jahrhunderts bestärken. Sie warten nun aber auf die leibhaftige Stimme hinter der Schwalbenschrift: Allen Beifall für Ilse Helbich….


Ekkehard Faude, Rede anlässlich der Buchvorstellung von Ilse Helbich »Schwalbenschrift«, Libelle Verlag 2003, am 17. 9. 2003 im Historischen Museum in Wien (inzwischen: Wien-Museum)

© Libelle Verlag, 2003
Foto: Ilse Helbich am 16. September 2003 nach der Buchvorstellung im Historischen Museum Wien beim Signieren (© Phlox 2003).


Noch irgendwelche Fragen?
Wir beantworten sie gern. Per Mail. Und relativ balde... (faude@libelle.ch)
*
*

Zurück zum Seitenanfang
*
*

... hier geht es weiter zur Übersicht, d.h. zu Zeit-und Literaturgeschichte, den Krimis von Ulrich Ritzel, den Wissenschaftssatiren »Litzelstetter Libellen«, zu Fritz Mühlenwegs Mongolei-Büchern, zu Pädagogik und was sonst noch alles im Zeichen der Libelle veröffentlicht wird ...